Nach dem Tod meiner Mutter schien das Leben stillzustehen.
Das Haus wurde still und fremd. Die Dinge standen an ihrem Platz, aber sie schienen ihren Sinn verloren zu haben. Sogar die Luft in der Wohnung schien anders zu sein – schwer, leer, ohne den Duft von Vanille und Kaffee, der früher den Morgen erfüllte.
Der Vater schwieg.
Er weinte nicht, er erinnerte sich nicht, er erzählte niemandem, wie schwer es für ihn war. Er lebte einfach – Tag für Tag, wie nach einem Zeitplan. Frühstück, Arbeit, Abendessen, Fernsehen, Stille.
Aber ich konnte das nicht.
Ich war wütend. Auf ihn, auf mich selbst, auf die ganze Welt. Es schien, als wäre ihm alles egal, weil er so ruhig war.
Zwei Jahre vergingen.
Und dann, eines Abends, klingelte das Telefon.
Ich sah seinen Namen auf dem Display, aber ich zögerte lange, anzunehmen. Schließlich drückte ich auf „Annehmen“.
„Hallo“, sagte er leise. „Ich wollte dir etwas sagen.“
Pause.
„Ich habe geheiratet.“
Nach diesen Worten war es, als hätte jemand in meiner Brust einen Schalter umgelegt. Ich sagte nichts. Ich legte einfach auf.
Wir hatten monatelang keinen Kontakt. Er rief an – ich ging nicht ran. Er schrieb mir – ich antwortete nicht.
Ich hatte das Gefühl, dass er die Erinnerung an meine Mutter verraten hatte. Dass er sie durch jemand anderen ersetzt hatte, als ob man einfach eine Person auslöschen und eine andere einsetzen könnte.
Und dann kam eine kurze Nachricht:
„Komm einfach vorbei. Ohne Grund.“
Ich stand lange vor seiner Haustür und traute mich nicht, zu klingeln. Mein Herz pochte, meine Handflächen waren schweißnass. In meinem Kopf schwirrten Gedanken herum: „Warum bin ich überhaupt hierher gekommen? Was soll ich sagen? Wie soll ich die Frau ansehen, die jetzt hier wohnt?“
Sie öffnete die Tür.
Eine Frau um die vierzig – mit freundlichen, aber etwas misstrauischen Augen.
„Hallo“, sagte sie leise. „Ich bin Anna.“
„Ich weiß“, antwortete ich kühl.
Sie trat beiseite und ließ mich ins Haus.
Im Inneren war alles fast wie früher – nur mit kleinen Veränderungen.
Die Vorhänge waren dieselben, Mamas Vase auf der Fensterbank auch. Nur dass jetzt frische Blumen darin standen.
Auf dem Regal standen neue Bücher, in der Ecke ein kleiner grüner Ficus. Es roch nach etwas Warmem, Gemütlichem … und unerwartet Vertrautem – nach Zimt und Äpfeln.
„Tee?“, fragte sie.
Ich wollte „nein“ sagen, nickte aber aus irgendeinem Grund.
Wir setzten uns an den Tisch. Schweigend. Ich betrachtete die Tasse, sie mich. Im Zimmer herrschte eine unangenehme Stille, in der sogar das Ticken der Uhr laut erschien.
„Ich weiß, dass es dir wahrscheinlich unangenehm ist, dass ich hier bin“, sagte sie schließlich.
„Ich habe nicht vor, irgendetwas zu ersetzen. Ich wollte nur, dass das Haus wieder lebendig wird.“
Ich antwortete nicht. Nicht, weil ich nicht wollte, sondern weil ich einfach nicht wusste, was ich sagen sollte.
Anna stand auf, ging zur Kommode und öffnete die unterste Schublade.
Sie holte eine weiße Schachtel mit einer blauen Schleife heraus. Ich erkannte sie sofort.
Mamas Schachtel.
Ich erinnerte mich, dass Mama sie nur zu besonderen Anlässen herausholte – um Briefe, Fotos, Notizen und kleine „Schätze“ aus ihrem Leben darin aufzubewahren.
„Ich habe sie beim Umzug gefunden“, sagte Anna. „Ich konnte sie nicht wegwerfen. Sie ist doch immer noch ein Teil dieses Hauses, oder?“
Ich beugte mich näher heran.
Darin lagen vertraute Dinge: ein warmer Wollschal, altes Parfüm, ein vergilbter Brief und ein Notizbuch.
Der Duft des Parfüms war derselbe – zart wie meine Mutter.
Meine Augen brannten.
Ich wollte mich bedanken, aber stattdessen brach ich einfach in Tränen aus. Leise, ohne Worte, wie ein Kind, dem endlich erlaubt wurde, all das herauszuweinen, was es in sich trug.
Anna kam nicht näher. Sie umarmte mich nicht. Sie stand nur da – still, ruhig, als würde sie mit ihrer Anwesenheit sagen: Ich bin da, hast du es nicht eilig.
Wir saßen lange so da – ich mit meiner Schachtel, sie mit ihrer Tasse Tee.
Und zum ersten Mal seit zwei Jahren fühlte ich mich leichter.
Plötzlich wurde mir klar: Sie war nicht gekommen, um meine Mutter zu ersetzen. Sie war gekommen, um ihren Platz zu bewahren.
Und vielleicht war es genau das, was unser Haus gebraucht hatte.
Als ich ging, sagte Anna:
„Komm, wann immer du willst. Hier gibt es Tee und Charlotte. Die mit Zimt.
Ich lächelte zum ersten Mal seit langer Zeit.
Draußen war es kühl, aber drinnen wurde es richtig warm.
