Die alte Tasse — und das Geheimnis, das sie nicht kannte

In ihrer Küche stand immer dieselbe Tasse.
Alt, mit abgesplittertem Rand und einem verblassten Muster aus blauen Streifen.
Sie hatte mehrere Umzüge, viele Spülgänge und hunderte Frühstückstees überstanden.

— Warum bewahrst du diesen alten Kram auf? — fragte Marina genervt, als ihr Mann sie wieder ins Regal stellte.
— Sie ist bequem, — meinte Alexej.
— Aber sie ist gerissen!
— Na und. Der Tee bleibt trotzdem heiß.

Marina verzog das Gesicht. Sie hatte zehn andere — neue, schöne, identische.
Aber er trank nur aus dieser.

Eines Tages, während Alexej auf Geschäftsreise war, fasste sie einen Entschluss.
Sie nahm die Tasse, betrachtete die Risse — und warf sie leise, fast schuldbewusst, in den Müll.

„Ich kaufe eine neue, fast identische. Er wird’s nicht merken,“ dachte sie.

Drei Tage später kam er zurück.
Als Erstes stellte er den Wasserkocher an.
— Wo ist meine Tasse? — fragte er, als er den Schrank öffnete.
— Welche? — tat sie ahnungslos.
— Die… meine. Mit den Streifen.

Sie erstarrte.
— Die war kaputt, ich hab sie weggeschmissen. Wir kaufen eine neue, schönere.

Er schwieg. Dann sagte er leise:
— Hättest du nicht sollen.

Er setzte sich, goss Tee in eine andere Tasse und starrte in den aufsteigenden Dampf.
Marina wusste zum ersten Mal nicht, was sie sagen sollte.

— Bist du wirklich traurig wegen der alten Tasse? — fragte sie.
— Nicht wegen der Tasse, — antwortete er. — Sondern weil du nicht wusstest, warum ich sie behalten habe.

Er blickte auf und lächelte — traurig, aber warm.
— Daraus haben wir Tee getrunken an dem Tag, als wir beschlossen, zu heiraten. Erinnerst du dich? In der kleinen Wohnung, wo alles tropfte, und wir nur Brot zum Tee hatten.
— Nein… — flüsterte sie. — Ich hatte das ganz vergessen.
— Ich nicht.

Marina ging zum Mülleimer.
Die Tasse war längst fort — wohl mit dem Müllwagen am Morgen.

Am Abend holte sie eine neue hervor — mit demselben Muster.
Sie machte Tee und stellte sie vor ihn.
Er lächelte, nahm sie aber nicht.

— Danke, aber das ist nicht dieselbe, — sagte er.
Dann leise:
— Erinnerungen kann man nicht ersetzen.

Am nächsten Tag ging Marina auf den Markt.
Sie suchte lange, wühlte in Kisten mit altem Geschirr, bis sie dieselbe Tasse fand, nur leicht zerkratzt.
Sie kaufte sie, brachte sie nach Hause und stellte sie ins Regal.

Dann goss sie Tee ein, setzte sich ihm gegenüber und sah ihn zum ersten Mal anders an.
Sie verstand: Es war nicht die Tasse, die er vermisste — sondern die Zeit, als alles einfach, arm, aber echt war.

Seitdem, jedes Mal, wenn er die Tasse auf den Tisch stellte, lächelte sie.
Weil sie wusste: Das ist nicht nur Geschirr.
Das ist eine kleine Erinnerung an den Tag, an dem ihr gemeinsames Leben begann.

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